Märchen sind kein "Kinderkram",
sondern uraltes Kulturgut. Was über mehrere tausend Jahre, über
verschiedenste Weltanschauungen, Religionen und
Gesellschaftsformen Bestand hatte, muß auch heute nicht
modernisiert werden, sondern wird in der überlieferten Form
weiterwirken.
Märchen sind konzentrierte
Erfahrungen vergangener Generationen, die so allgemeingültig und
umfassend weise sind, daß sie uns heute weiterhelfen können.
Märchen sind zu schade als
"Unterhaltungsprogramm"; davon bekommen Kinder heute mehr als
genug.
Kinder wachsen normalerweise mit der
Grunderfahrung des Wunderbaren im Märchen auf. Ebenso erwarten
sie die klare Struktur von Notlage, Suchweg/Helfer und
wundersame Rettung/Erhöhung in einem Märchen.
Märchenverfremdungen, die aus Erwachsenen-Sicht lustig wirken
mögen, verunsichern das Kind in dieser Erwartung und hindern es
an der Entwicklung einer sicheren Erfahrungsbasis.
Für Kinder ist das "Gute Ende" im
Märchen eine felsenfeste Grunderfahrung. "Normale", natürliche
und kindgemäße Beziehungen zwischen Dingen und Figuren führen
stets zum guten Ende, das Schlechte, Böse wird bestraft.
Märchen haben eine bildhafte
Sprache, setzen bewußt auf kurze, knappe Darstellung, um dem
Zuhörer Gelegenheit zur Schaffung eigener Bilder zu geben. Darin
liegt gerade der "Trick" des Märchens: Es wird im Kopf des
Zuhörers ausschließlich aus eigenen Bildern, die emotional ganz
nah an der Seele liegen, erzeugt.
Gewalt ist im Märchen nie
Selbstzweck, sondern dient der Bestrafung des Bösen, meist auf
dessen Veranlassung. Nur durch die vollständige Vernichtung des
Bösen kann die Bedrohung beseitigt werden. Normal aufwachsende
Kinder spüren das instinktiv und kommen mit den üblichen
Gewaltszenen im Märchen gut zurecht. Die knappe Bildersprache
des Märchens zwingt das Kind dazu, auch die schrecklichsten
Bestrafungen in seine eigene Erfahrungswelt zu "übersetzen". Und
diese Bilder können vom Kind verarbeitet werden, da sie ja aus
eigenen Erfahrungen des Kindes genährt sind.
Vorsicht! Bei Kindern mit traumatischen Erfahrungen kann das
gründlich schief gehen! Daher ist ein echtes
Vertrauensverhältnis zwischen Kindern und Erziehenden und eine
sorgfältige Textauswahl wesentlich!
Heinrich Seuse, Büchlein der ewigen
Weisheit, 1334
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