Warum Märchen?
Andreas vom Rothenbarth
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Was sollen Märchen in unserer modernen Zeit?

Märchen sind kein "Kinderkram", sondern uraltes Kulturgut. Was über mehrere tausend Jahre, über verschiedenste Weltanschauungen, Religionen und Gesellschaftsformen Bestand hatte, muß auch heute nicht modernisiert werden, sondern wird in der überlieferten Form weiterwirken.
Märchen sind konzentrierte Erfahrungen vergangener Generationen, die so allgemeingültig und umfassend weise sind, daß sie uns heute weiterhelfen können.

Märchen sind zu schade als "Unterhaltungsprogramm"; davon bekommen Kinder heute mehr als genug.
Kinder wachsen normalerweise mit der Grunderfahrung des Wunderbaren im Märchen auf. Ebenso erwarten sie die klare Struktur von Notlage, Suchweg/Helfer und wundersame Rettung/Erhöhung in einem Märchen. Märchenverfremdungen, die aus Erwachsenen-Sicht lustig wirken mögen, verunsichern das Kind in dieser Erwartung und hindern es an der Entwicklung einer sicheren Erfahrungsbasis.
Für Kinder ist das "Gute Ende" im Märchen eine felsenfeste Grunderfahrung. "Normale", natürliche und kindgemäße Beziehungen zwischen Dingen und Figuren führen stets zum guten Ende, das Schlechte, Böse wird bestraft.

Märchen haben eine bildhafte Sprache, setzen bewußt auf kurze, knappe Darstellung, um dem Zuhörer Gelegenheit zur Schaffung eigener Bilder zu geben. Darin liegt gerade der "Trick" des Märchens: Es wird im Kopf des Zuhörers ausschließlich aus eigenen Bildern, die emotional ganz nah an der Seele liegen, erzeugt.
Gewalt ist im Märchen nie Selbstzweck, sondern dient der Bestrafung des Bösen, meist auf dessen Veranlassung. Nur durch die vollständige Vernichtung des Bösen kann die Bedrohung beseitigt werden. Normal aufwachsende Kinder spüren das instinktiv und kommen mit den üblichen Gewaltszenen im Märchen gut zurecht. Die knappe Bildersprache des Märchens zwingt das Kind dazu, auch die schrecklichsten Bestrafungen in seine eigene Erfahrungswelt zu "übersetzen". Und diese Bilder können vom Kind verarbeitet werden, da sie ja aus eigenen Erfahrungen des Kindes genährt sind.
Vorsicht! Bei Kindern mit traumatischen Erfahrungen kann das gründlich schief gehen! Daher ist ein echtes Vertrauensverhältnis zwischen Kindern und Erziehenden und eine sorgfältige Textauswahl wesentlich!

Hier gehts zur Meinung eines Klassikers
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"Ein ander Ding ist es, ein süßes Saitenspiel selbst süß erklingen zu hören oder es nur vom Hörensagen zu kennen. So ungleich und anders sind auch die Worte, die lauter und in Gnade empfangen werden und dann durch einen lebendigen Mund und aus einem lebendigen Herzen fließen, verglichen mit denselben Worten, wenn sie auf totem Pergament stehen, zumal in deutscher Sprache. Ich weiß nicht, warum, aber sie wirken kalt und verwelken wie abgebrochene Rosen. Denn die innige Freude, die über alles ans Herz des Menschen rührt, die ist dann erloschen, und nur dürr gelangen diese Worte in dürre Herzen."

Heinrich Seuse, Büchlein der ewigen Weisheit, 1334 

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